Nicht immer ist es selbstverständlich, dass Nachbar:innen sich gegenseitig helfen. Doch dies ist die Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben in einer Gemeinschaft. Beatrice Binder-Wüstiner ist Diakonin sowie Gründerin und Geschäftsführerin der Nachbarschaftshilfe im Kreis 5 in Zürich. Sie führt Menschen zusammen: engagierte Frauen und Männer und Hilfe suchende NachbarInnen. Mit ihrem grossen Netzwerk fördert und unterstützt sie Kontakte und koordiniert die nachbarschaftliche Hilfe im Quartier, ergänzend zu den bestehenden sozialen Einrichtungen und Institutionen.
Ich kann nicht selbst allen Leuten helfen, sondern ich organisiere, dass ihnen geholfen wird. Und das hat ganz viel mit Vernetzung und Beziehungsarbeit zu tun.
Wir sprechen heute über das Thema Nachbarschaftshilfe. Wie hat das Projekt im Kreis 5 in Zürich begonnen?
Als ich meine Arbeit als Diakonin für kirchliche Sozialarbeit im Kreis 5 angefangen habe, konnte ich auf der grünen Spielwiese anfangen. Und dann sind verschiedene Leute aus dem Quartier auf mich zugekommen und meinten, dass wir in unserem Quartier eine Nachbarschaftshilfe brauchen. Nachbarschaftshilfe ist etwas, das im Rahmen von der Caring Community, also von der Sorgenden Gemeinschaft passiert. Es geht darum, dass man das Miteinander fördert und in dem Sinne auch die Lebensqualität im Quartier.
Kreis 5 gilt als einer der hipsten Kreise in Zürich mit sehr vielen jungen Menschen. Und zu Beginn des Projekts gab es Stimmen, die meinten, genau dort würde dieses Projekt nicht funktionieren. Sie haben es aber doch geschafft. Was war das Erfolgsgeheimnis?
Der Kreis 5 hat mehrere Anläufe genommen, Nachbarschaftshilfe aufzubauen. Als ich angefangen habe, hat man die Nachbarschaftshilfe an eine Institution gebunden, an die Kirche. Das Geheimnis der Nachbarschaftshilfe: Sie ist konfessionell unabhängig, offen für alle, unabhängig vom Bildungsniveau, unabhängig vom Lohnniveau. Zum Erfolg beigetragen hat sicher auch die gute Vernetzung. Als Diakonin mache ich Quartierarbeit, d.h. ich kenne ganz viele weitere Player im sozialen Raum. Und in dem Moment, in dem alle gemerkt haben, es gibt da jemanden, der sich kümmert, haben sie sich an mich gewendet, wenn jemand Hilfe brauchte. Und: Kreis 5 ist ja ein linker Kreis, der das Bewusstsein für Soziales hat, dafür, sich gegenseitig zu unterstützen.
Es entstehen ganz unerwartete Beziehungen. Und man berührt sich wirklich auf menschlicher Ebene.
Es entstehen ganz unerwartete Beziehungen. Und man berührt sich wirklich auf menschlicher Ebene.
Das Matching funktioniert bei Ihnen auf sehr professionelle Weise, ähnlich wie beim Roten Kreuz.
Bei der formalisierten Hilfe oder Nachbarschaftshilfe rekrutiert man einerseits Freiwillige, und fragt, wie sie sich gerne einbringen würden, wo ihre Interessen liegen, was ihnen Spass und Freude macht. Auf der anderen Seite melden sich Leute, die ganz spezifische Bedürfnisse mitbringen: von Besuchen zu Begleitung zu Gesprächen, Menschen, die sich einsam fühlen, aber auch Menschen, die Computerhilfe benötigen oder Nachhilfe für Kinder armutsbetroffener Familien, insbesondere auch für Familien und Alleinerziehende mit Migrationshintergrund.
Beim Matching werden Formulare ausgefüllt und ins Programm eingespeist. Ausserdem lernen wir alle Freiwilligen persönlich kennen, um einen Ersteindruck zu erhalten und um Missbrauch zu vermeiden.
Es ist ja 100% freiwillig. Man fragt sich: Was motiviert Menschen in unserer modernen, stressigen Zeit, anderen zu helfen?
Freiwillig heisst, es ist keine entschädigte Arbeit. Es gibt kein Geld, das wir auszahlen. Aber in der Nachbarschaftshilfe fördern wir natürlich den Austausch zwischen denen, die sich freiwillig einsetzen, damit sie ihre Erlebnisse teilen können. Das Wichtige ist: Die Entschädigung, die die Freiwilligen bekommen, ist nicht monetär. Die Motivation zum Helfen bei den Menschen entsteht durch die Zufriedenheit – durch das, was sie machen. Sie merken, dass das ein wichtiger Beitrag ist für die einzelnen Menschen, dass sie denen etwas bedeuten.
Wie grenzt sich die Nachbarschaftshilfe von professionellen Dienstleistungen ab?
Wichtig für uns ist die Unterstützung von Kindern mit Migrationshintergrund durch Nachhilfe, zur Förderung der Bildungschancen. Das sind Leute, die die finanziellen Verhältnisse nicht haben, um ihren Kindern Nachhilfe privat zu finanzieren. Aber wir dürfen keine professionelle Hilfe konkurrenzieren. D.h. wir konkurrenzieren weder Umzugsunternehmen noch Putzhilfen noch pflegerische Institutionen. Auch keine Steuerberatung. Und wir schauen genau darauf, dass unsere Freiwilligen nicht ausgenutzt werden. Das ist ganz wichtig.
Bei Ihrer Arbeit gibt es sicher auch viele berührende Momente…
Eine Frau mit Migrationshintergrund mit zwei kleinen Kindern konnte sich aus der Sozialhilfe befreien, fand Arbeit in der Gastronomie. Aber das Problem war die Kinderbetreuung während der frühen und späten Arbeitszeiten. Da haben wir jemanden gefunden, die ihre Kinder früh am Morgen in die Krippe gebracht hat. Und eine andere Frau hat die Kinder am Feierabend in Empfang genommen oder hat sie auch mal ein ganzes Wochenende betreut. Schliesslich hat sie an Weihnachten sogar die ganze Familie in den Kreis ihrer eigenen Familie eingeladen. Eine Freundschaft ist entstanden. Und die Kinder haben eine neue Gotte bekommen.
Die Freiwilligen haben mehr und mehr Interesse, sich auch untereinander direkt zu vernetzen und den persönlichen Austausch zu pflegen. Das hat wieder mit Lebensqualität im Quartier zu tun.
Die Freiwilligen haben mehr und mehr Interesse, sich auch untereinander direkt zu vernetzen und den persönlichen Austausch zu pflegen. Das hat wieder mit Lebensqualität im Quartier zu tun.
Beatrice Binder-Wüstiner ist Diakonin und Geschäftsführerin der Nachbarschaftshilfe im Kreis 5. Sie ist an verschiedenen Orten mit Menschen für ein Stück ihres Lebensweges unterwegs. Sie organisiert, knüpft Kontakte und Beziehungen im Quartier, führt Veranstaltungen durch, besucht Menschen und hilft Not lindern. Immer mit einem offenen Ohr für Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen und sozialen Milieus.